Leta Semadeni wurde für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk geehrt. Was das in der Autorin auslöste und warum das Schreiben für sie zum Leben gehört wie das Zähneputzen.

Leta Semadeni, was haben Sie heute vor?

Nach dem Mittag habe ich am Literaturfestival Literaare in Thun eine Lesung. Danach reise ich ins Unterengadin zurück. Abends werde ich zur Entspannung Klavier spielen.

Seit wann spielen Sie?

Ich begann in der ersten Klasse. Als ich zum Studieren nach Zürich zog, hatte ich keine Zeit und kein Klavier mehr. Heute nehme ich wieder Stunden,  denn das Musizieren ist für mich eine wichtige Ausdrucksform.

Wie das Schreiben.

Auch das begleitet mich seit meiner Kindheit. Mein Vater Jon Semadeni war Schriftsteller. Abends las er meiner Mutter und uns vier Kindern seine Texte vor. Das ermunterte mich, selbst Gedichte zu verfassen. Für mich gehört das Schreiben zum Leben wie das Zähneputzen.

Kürzlich haben Sie den Schweizer Grand Prix Literatur gewonnen. Wie fühlt sich das an?

Es ist eine riesige Überraschung und eine grosse Freude. Lange Jahre wurde ich kaum wahrgenommen.  Meine Gedichte waren nur im rätoromanischen Teil der Schweiz bekannt.

Sie schreiben in Romanisch und Deutsch. Welche Sprache ist Ihnen näher?

Bis ich zehn war, sprach ich ausschliesslich Vallader,  das Unterengadiner Rätoromanisch-Idiom. Erst in der vierten Klasse lernte ich Deutsch. Heute fühle ich mich in beiden Sprachen gleichermassen zu Hause.

Sie haben Gedichte und zwei Romane geschrieben. Den ersten davon mit 72 Jahren. Warum so spät?

Eigentlich wollte ich immer Prosa schreiben, doch es gelang mir nicht. Ich kürzte die Texte so stark, bis ein Gedicht übrig blieb. Als ich mich bei einer Kollegin darüber beklagte, sagte sie:«Nimm dir vor, einen Monat lang nichts zu streichen.» Ich befolgte ihren Rat, und es klappte.

«Schmerzhaft ist in meinem Alter, dass immer mehr Menschen aus meinem nahen Umfeld sterben.»

Leta Semadeni

LETA SEMADENI, 78, ist Schriftstellerin und lebt im Unterengadin. Ihre Gedichte und Romane wurden mehrfach ausgezeichnet.

Das war der Anfang meines ersten Romans «Tamangur».

Aber Ihr Schreibstil ist knapp geblieben.

Ja, ich vergleiche ihn gerne mit dem Kaffee in Ecuador.

Wie ist der denn?

Ich lernte ihn kennen, als ich dort Spanisch studierte. Bestellte ich Kaffee, bekam ich zwei Kännchen serviert. Eins mit dickflüssigem Kaffee, das andere mit heissem Wasser. Genauso ist es mit meinen Texten: Was ich serviere, ist das Konzentrat; das Wasser muss die Leserschaft selbst dazugiessen.

Was empfinden Sie, wenn Sie ein Buch publizieren?

Der Vogel, den ich kreiert habe, fliegt weg. Ich kann seinen Flug nicht mehr beeinflussen, ich kann nur hoffen, dass er an einem Ort landet, wo er willkommen ist.

Wann schreiben Sie?

Gibt es unter den Menschen Eulen und Lerchen, gehöre ich zu den Eulen. Aber grundsätzlich schreibe ich nur, wenn ich Lust dazu habe.

Ist das ein Privileg des Älterwerdens?

Ich habe das schon früher so gehandhabt. Doch den Mut, meine Stelle als Lehrerin zu kündigen und mich ganz dem Schreiben zu widmen, hatte ich tatsächlich erst mit sechzig.

Sie sind 78. Wie gehen Sie mit der Begrenztheit des Lebens um?

Ich bin mir ihrer bewusst, versuche aber, nicht ständig dran zu denken, denn ich möchte noch vieles erschaffen. Schmerzhaft ist, dass immer mehr Menschen aus meinem nahen Umfeld sterben. Wenn man alt wird, muss man sich ständig neue Freunde suchen.